Eine Flucht hinterlässt immer Spuren. Im Projekt von Paxion erhalten Geflüchtete psychologische Beratung von Menschen mit Flucht-Erfahrungen. Asylsuchende, Menschen mit Migrations- oder Gewalterfahrungen haben Zugang zu vertraulichen Gesprächen mit einem Paxion Counselor in einem geschützten Raum und in der eigenen Sprache. Esther Oester, Gründerin und Geschäftsleiterin des Vereins Paxion, gibt Einblick in das Pilotprojekt, das in den Kantonen Aargau und Zug gerade läuft.
Sie haben den Verein Paxion gegründet. Wie ist er entstanden und welche Idee steckt dahinter?
Esther Oester: Geflüchtete Menschen, die in der Schweiz ankommen, haben Schlimmes erlebt. Sie mussten aus ihrer Heimat fliehen und hatten unterwegs viele Schwierigkeiten. Studien zeigen, dass 40 bis 50 Prozent der Asylsuchenden unter Traumafolgestörungen leiden. In der Schweiz gibt es aber allgemein zu wenig Angebote für die psychische Gesundheit, insbesondere für geflüchtete Menschen. Paxion kann eine Projektidee von einer Partnerorganisation aus Deutschland übernehmen – «Ipso – International Psychosocial Organisation». Diese hat eine psychologische Beratung von Geflüchteten für Geflüchtete entwickelt und führt heute Beratungsstellen in Afghanistan und in Deutschland. Wir haben den Verein Paxion gegründet, um diese Art psychologische Beratung in der Herkunftssprache der Geflüchteten in der Schweiz einzuführen.
2023 hat das Pilotprojekt ComPaxion in den Kantonen Aargau und Zug begonnen. Was ist das Ziel dieses Pilotprojektes?
Mit dem Pilotprojekt bieten wir die Beratung in den zwei Kantonen an. Wir richten uns an Geflüchtete, die zum Beispiel Ängste und Sorgen haben, weil ihre Familie noch im Konfliktland ist. Viele sind verzweifelt und hilflos, haben Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Sie können sich z.B. im Deutschkurs schlecht konzentrieren und haben Schwierigkeiten bei der Integration. Die psychologische Beratung (Counseling) hilft ihnen, sich zu stabilisieren und zu ihren Kräften zurück zu finden. Die meisten gehen nach der Beratung weg und sagen, dass es ihnen viel besser geht. Einzelne sind psychisch krank, die verweisen wir in eine weiterführende Therapie.
Dabei haben Sie 17 Counselors ausgebildet. Welche Rolle spielen diese Leute?
Wir haben vorqualifizierte Geflüchtete, die im Herkunftsland selbst Psychologin oder Sozialarbeiter waren, ein Jahr lang weitergebildet, davon neun Monate Praktikum. Sie haben kürzlich die Schlussprüfung bestanden und bieten in den Kantonen Aargau und Zug die psychologische Beratung für Asylsuchende in ihrer eigenen Sprache an.
Nach welchen Kriterien wurden diese Counselors ausgewählt?
Wir haben Personen gesucht mit einer Ausbildung oder Erfahrung im Gesundheitsbereich, Sozialbereich oder Bildung. Sie müssen psychisch stabil und empathisch sein, gut Deutsch sprechen und gerne als Beraterinnen tätig sein. Wir haben die am häufigsten gesprochenen Sprachen der Asylsuchenden gewählt und sowohl Frauen als auch Männer weitergebildet. Die Counselors kommen z.B. aus Afghanistan, dem Iran, Syrien, der Türkei, Eritrea und der Ukraine. Und sie sprechen: Dari, Farsi, Paschtu, Usbekisch, Arabisch, Kurdisch-Kurmançi und Kurdisch-Sorani, Türkisch, Ukrainisch, Russisch, Tigrinja, Amharisch, Spanisch, Italienisch.
Welche Erfahrung haben Sie mit diesen Menschen, die eine eigene Flucht- und Migrationsgeschichte haben, gemacht?
Ich bin sehr beeindruckt und habe grossen Respekt vor ihnen. Ich finde es bewundernswert, dass sie sich auf eine anspruchsvolle Weiterbildung eingelassen haben. Es ist sicherlich nicht einfach, die eigene Vergangenheit zu reflektieren und dabei auch schmerzhafte Erfahrungen anzuschauen. Es ist den Counselors gelungen, ihre Erfahrungen zu «integrieren» und daraus eine Stärke zu schöpfen. Sie sind mit grosser Motivation und viel Engagement bei der Sache – ein wundervolles Team.
Ebenso arbeiten Sie bei diesem Pilotprojekt eng mit den kantonalen Sozialdiensten in den Kantonen Aargau und Zug zusammen. Wie erleben Sie dabei die Zusammenarbeit mit den Zuständigen und den Behörden?
Im Aargau arbeiten wir eng mit dem Kantonalen Sozialdienst und dem MIKA zusammen und bekommen hervorragende Unterstützung. Wir haben den Eindruck, dass die Behörden unser Angebot sehr schätzen, weil wir Ihnen helfen, dass es den Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen besser geht. Es handelt sich um eine Win-win-Situation.
Der Standort von Paxion ist in Aarau, ebenso haben Sie diesen Kanton für ihr Pilotprojekt ausgesucht. Haben Sie eine besondere Beziehung zum Aargau oder wieso geraden dieser Kanton?
Wir sind eng mit dem Kompetenzzentrum Psy4Asyl verbunden. Die Geschäftsleiterin von Psy4Asyl, Sara Michalik, war bis vor einem Jahr die Präsidentin von Paxion. Sie hat geholfen das Projekt aufzubauen, so sind wir in den Kanton Aargau gekommen. Heute arbeiten wir eng mit Psy4Asyl zusammen. Wenn Betreuende in den Kollektivunterkünften oder Sozialarbeitende in den Gemeinden unsicher sind, ob jemand Therapie oder psychosoziales Counseling benötigt, macht Psy4Asyl eine Abklärung.
Gerade im Hinblick auf den Ukrainekrieg ist die psychosoziale Beratung von Geflüchteten für Geflüchtete sehr wichtig. Wieso können gerade Geflüchtete anderen belasteten Menschen helfen, ihre Situation zu stabilisieren?
Wer vergleichbare Erfahrungen hat und die gleiche Sprache spricht, kann schnell eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen. Sie verstehen die Lebenssituation und die Integrationsschwierigkeiten, denn sie haben das auch erlebt. Damit sind wichtige Voraussetzungen für ein gutes Beratungsgespräch gegeben. Das wird ergänzt durch eine professionelle und empathische Gesprächsführung und führt zu beeindruckenden Resultaten.
Ganz allgemein: Was benötigen Menschen mit Flucht-, Migrations- und Gewalterfahrung?
Einen sicheren Ort, Verständnis, soziale Beziehungen, das Gefühl ernst genommen zu werden, Respekt. Gesprächspartner/innen, die einen verstehen und helfen die Realität im Herkunftsland und jene in der Schweiz miteinander in Einklang zu bringen. Das ist was ich mir vorstelle – man müsste auch die Betroffenen selber fragen.
Was ist momentan der Status quo dieses regionalen Pilotprojektes ComPaxion?
Die Beratungen haben begonnen, im Kanton Aargau können Asylsuchende und anerkannte Geflüchtete inklusive Schutzstatus S, die eine der angebotenen Sprachen sprechen und Sozialhilfe beziehen, eine Beratung in Anspruch nehmen. Betroffene können sich mit ihren Sozialarbeitenden anmelden. Die Counselors rufen sie an und organisieren Gespräche in den Beratungsstellen in Aarau, Baden, Reinach und in Zug. Die Beratungen dauern eine Stunde und es finden bis zu acht Gespräche statt. Wir bauen das Projekt jetzt auf und würden es in Zukunft gerne ausweiten. Dafür sind wir auf Unterstützung und Spenden angewiesen.
Wie wird der Verein Paxion und im Besondern das Pilotprojekt finanziert?
Die Kantone bezahlen uns einen Anteil an die Beratungskosten aus dem Sozialbudget, das ist sehr wertvoll. Es reicht aber nicht für das ganze Projekt. Wir sind auf die Unterstützung von Stiftungen und Einzelpersonen angewiesen. Paxion ist ein Verein und freut sich über neue Mitglieder.
Was wünschen Sie sich für Paxion respektive Ihre Arbeit mit den Geflüchteten?
Im Moment finanzielle Unterstützung, damit wir dieses Pilotprojekt richtig aufbauen und festigen können. Und viele solidarische und interessierte Menschen, die sich in irgendeiner Form für das Projekt engagieren. Am meisten wünsche ich mir, dass Menschen nicht fliehen müssen und ein gutes Leben haben, da wo sie möchten – sie haben nach meiner Vision gefragt. Ich danke dafür.
Interview: Corinne Remund