«Barrieren und Berührungsängste gemeinsam abbauen!»

    Pro Infirmis feiert ihren grossen runden Geburtstag Corona bedingt im nächsten Jahr mit einem Grossevent auf dem Bundesplatz. Der Verein hat in den letzten 100 Jahren viel bewerkstelligt, allerdings ist das Ziel, einer inklusiven Gesellschaft näher zu kommen, noch lange nicht erreicht. Felicitas Huggenberger, Direktorin Pro Infirmis, über den neuen Ausschuss «Partizipation und Inklusion» von Menschen mit einer Behinderung, über die wichtigsten Dienstleistungen des Vereins sowie über den positiven Auftritt in den sozialen Medien.

    (Bild: zVg/ Pro Infirmis
    Felicitas) Huggenberger: «Für eine inklusive Gesellschaft braucht es alle: Menschen mit und ohne Behinderung.»

    Pro Infirmis feiert dieses Jahr ihr 100jähriges Bestehen. Wenn Sie Bilanz ziehen, was sind die wichtigsten Meilensteine in der Geschichte der Organisation?
    Felicitas Huggenberger: In 100 Jahren hat sich Pro Infirmis zur grössten schweizerischen Fachorganisation für Menschen mit Behinderungen entwickelt. Gegründet wurde Pro Infirmis 1920 als Schweizerische Vereinigung für Anormale. Der Begriff «anormal» fiel erst 1945 aus dem Namen. Darin zeigt sich schon, wie stark sich die Organisation in ihrer langen Geschichte gewandelt hat – aber auch, wie langwierig dieser Prozess war. Angetrieben wurde der Wandel von einer immer selbstbewussteren und selbstbestimmteren Haltung der Menschen mit Behinderungen in der Schweiz, die Schritt für Schritt auch in die Gesellschaft und Politik durchgedrungen ist. Seit 2001 wird diese Haltung auch in den Kampagnen von Pro Infirmis deutlich sichtbar. Am Ziel sind wir aber noch nicht: Mit der Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention durch die Schweiz im Jahr 2014 sind die Ansprüche an die Inklusion nochmals gestiegen und klar festgehalten worden. Ein wichtiger Meilenstein für die Zukunft wird sein, diese Entwicklung weiterhin erfolgreich in die Gesellschaft und in unsere eigene Organisation zu tragen.

    Das Jubiläumsmotto lautet «Die Zukunft kennt kein Hindernis». Was steckt dahinter?
    Pro Infirmis zeigt damit Wege in eine inklusive Zukunft auf, die uns alle betrifft. Unser Jubiläumsprogramm wurde in engem Austausch mit Menschen mit Behinderungen erarbeitet. Viele von ihnen sind als Protagonist/innen, als Moderator/innen, als Künstler/innen oder als Inklusionsexpert/innen aktiv beteiligt. Denn für eine inklusive Gesellschaft braucht es alle: Menschen mit und ohne Behinderung. Damit diese Gleichberechtigung auch Realität wird, muss die Teilhabe von Menschen mit Behinderung gezielt gefördert werden. Barrieren und Berührungsängste werden so gemeinsam abgebaut und die gemeinsame Zukunft tritt in den Vordergrund. Darauf bezieht sich unser Motto.

    Apropos Hindernis: Das Jubiläumsjahr fällt ins Corona-Jahr: Hat die Pandemie die Feierlichkeiten tangiert oder beeinträchtigt?
    Corona hat unser Jubiläumsjahr ziemlich auf den Kopf gestellt. Während wir am eigentlichen Geburtstag, dem 31. Januar, noch gemeinsam in allen Regionen Geburtstagstorten anschneiden konnten, war bald klar, dass weitere Anlässe nicht wie geplant stattfinden konnten. So mussten wir zum Beispiel unseren politischen Gross­event auf dem Bundesplatz verschieben – aber nicht absagen: 2021 werden wir zum 101. Geburtstag diesen und weitere Anlässe nachholen.

    (Bild: Dominique Meienberg / Pro Infirmis) Inklusion geht uns alle an: Pro Infirmis setzt sich dafür ein – denn die Gesellschaft ist in vielen Bereichen noch nicht bereit für ein diskriminierungsfreies Zusammenleben.

    Wie ist das Jubiläumsjahr bis jetzt gelaufen?
    Im Jubiläumsjahr 2020 konnten wir mit der Jubiläumsbriefmarke und unserer Kampagne trotz Pandemie präsent sein und für unsere Themen sensibilisieren. Digital konnten wir das Jubiläum nutzen, um neue Wege zu gehen; so haben wir beispielsweise einen Vlog in mehreren Sprachen produziert, der viele spannende Menschen mit Behinderungen ins Zentrum rückt und Einblick in ihr Leben gibt. Und wir sind – wie sich das beim Älterwerden gehört – auch in uns gekehrt und haben beschlossen, dass Veränderungen bei Pro Infirmis anstehen: zu unserem 100-jährigen Bestehen haben wir die Partizipation von Menschen mit Behinderungen in der Organisation in den Statuten verankert und möchten diese weiter stärken.

    Sie möchten die Partizipation von Menschen mit Behinderung bei Pro Infirmis stärken – Sollte das nicht eine Selbstverständlichkeit sein?
    Aus heutiger Sicht ist es eine Selbstverständlichkeit. Aber wie gesagt, blickt Pro Infirmis auf eine lange Geschichte zurück. Der Wandel von einer 100-jährigen Institution der Unterstützung hin zu einer inklusiven und partizipativen Organisation geschieht nicht über Nacht. Natürlich sind Menschen mit Behinderungen bei Pro Infirmis bereits heute beispielsweise im Vorstand, als Mitarbeitende und in Kommissionen vertreten. Es geht nun aber darum, diese Teilhabe systematisch in der Organisation zu verankern und zu stärken. Dazu schaffen wir den Ausschuss «Partizipation und Inklusion», der voraussichtlich im März 2021 sein Amt aufnehmen soll: Der Ausschuss soll sich aus zwei Vorstandsmitgliedern und maximal sechs weiteren Personen, welche selber mit Behinderungen leben, zusammensetzen, und hat zur Aufgabe, den aktiven Einbezug von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen bei Pro Infirmis voranzutreiben. Wir freuen uns auf die Herausforderungen, die er an uns stellen wird.

    Was sind die wichtigsten Dienstleistungen?
    Unsere wichtigste Dienstleistung ist die Sozialberatung. Diese kostenlose Beratung und Begleitung in den verschiedenen Lebensbereichen trägt dazu bei, herausfordernde Lebenssituationen zu bewältigen und Perspektiven zu entwickeln. Wir vermitteln Informationen, insbesondere zu den Sozialversicherungen, und helfen bei finanziellen Engpässen. Konkrete Dienstleistungen wie etwa das begleitete Wohnen oder der Entlastungsdienst unterstützen die Menschen darüber hinaus, ihren eigenen Weg möglichst selbstbestimmt zu gehen.

    Wie hat sich das Leben der Menschen mit Behinderungen in den letzten Jahren verändert?
    Das müssten Sie Menschen mit Behinderungen selbst fragen. Aus unserer Sicht hat sich der Zugang zu den Infrastrukturen und dem öffentlichen Verkehr für Menschen mit Behinderungen zumindest verbessert, wenn auch noch viel Handlungsbedarf besteht. Auch in der digitalen Welt sind mit barrierefreien Webseiten positive Veränderungen im Gange, die es zu nutzen und zu stärken gilt. Verstärkte Massnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung der IV-Bezüger/innen haben auf Seite der Behörden auch zu Verbesserungen beigetragen.

    Wie geht die Gesellschaft mit Menschen mit einer Behinderung um und wo gibt es noch Verbesserungspotenzial?
    In der Gesellschaft wurden einige, insbesondere physische Barrieren abgebaut, aber nicht zuletzt die psychischen Hürden für eine wirklich inklusive Gesellschaft bestehen nach wie vor. Psychische Behinderungen sind im Gegensatz zu kognitiven und körperlichen Behinderungen wenig akzeptiert. Insgesamt ist die Gesellschaft in vielen Bereichen noch nicht bereit für ein wirklich inklusives Zusammenleben. Man denke hier beispielsweise an inklusive Schulklassen. Diese bedingen, dass Mitschüler und ihre Eltern oder Kolleginnen und Kollegen diesen Ansätzen mit Wertschätzung und ohne Berührungsängste begegnen. Da haben wir noch einen langen Weg vor uns.

    Was sind die grössten Herausforderungen für Menschen mit einer Behinderung in unserer Gesellschaft?
    Dass in allen Lebensbereichen noch immer physische und psychische Barrieren bestehen, sodass Menschen mit Behinderungen nicht vollständig und diskriminierungsfrei am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben teilhaben können.

    Pro Infirmis ist auch auf den Sozialen Medien präsent. Wie sieht die diesjährige Plakat- und Social-Media-Kampagne aus?
    Bei der diesjährigen Plakat- und Social-Media-Kampagne griffen Menschen mit Behinderungen einen beliebten Internet-Trend auf: Sie stellten ihre alten Kinderfotos nach. Mit dieser Sensibilisierungskampagne wollten wir das Leben zelebrieren. Dazu gehören schöne Momente, aber auch weniger schöne – und alle Momente dazwischen. Auch wenn in den Jahren zwischen damals und heute für die Protagonist/innen viel Positives geschehen ist, erleben sie nach wie vor Hürden im Alltag. Und auch auf diese machen wir aufmerksam.
    Parallel zur Plakatkampagne lancierten wir eine Solidarisierungskampagne auf Social Media: Mit dem Hashtag #WieDuUndIch konnten Leute ihr Facebook- und Instagram-Profilbild verschönern und sich so mit Menschen mit Behinderungen solidarisieren. Denn Inklusion geht uns alle an.

    Welches Echo haben Sie auf diese Kampagnen bekommen?
    Ein durchaus positives: Die Kampagnensujets sind aufgefallen, da sie beim Plakataushang mit ihrer Authentizität aus dem klassischen Gesamtbild der Hochglanzwerbung ausgebrochen sind. Wir haben auch sehr liebe E-Mails erhalten von Leuten, die uns geschrieben haben, dass sie die Plakate sehr berührt haben. Die Social-Media-Kampagne stiess auf grosses Echo. Gerade auf Facebook haben wir eine sehr hohe Reichweite erzielt und die Kampagne aufgrund des grossen Erfolgs auf den digitalen Kanälen verlängert.

    Was wünschen Sie sich für Pro Infirmis für die Zukunft?
    Ich wünsche mir, dass Pro Infirmis auch in Zukunft wesentlich dazu beiträgt, dem Ziel einer inklusiven Gesellschaft näher zu kommen und dazu mit gutem Beispiel vorangeht.

    Interview: Corinne Remund


    Pro Infirmis führt in der ganzen Schweiz Beratungsstellen und unterstützt Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen. Als gemeinnütziger Verein mit Sitz in Zürich ist Pro Infirmis politisch unabhängig und konfessionell neutral. Pro Infirmis fördert mit ihren Dienstleistungen das selbstständige und selbstbestimmte Leben von Menschen mit Behinderungen. Pro Infirmis setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen aktiv am sozialen Leben teilnehmen können und nicht benachteiligt werden. Dieses Ziel will Pro Infirmis gemeinsam mit den Betroffenen erreichen.

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